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THE GLOBAL SMART CITY KNOWLEDGE BASE

Interview mit Prof. h.c. Dr. Chirine Etezadzadeh vom 25.03.2020

Können Sie als Smart-City-Forscherin der aktuellen Krise auch etwas Gutes abgewinnen? 
Wir dürfen darauf hoffen, dass wir neben den vielen furchtbaren Nachrichten und den großen Herausforderungen, die uns noch bevorstehen, auch positive Impulse mit aus der Krise nehmen werden. Krisensituationen machen uns ja durchaus auch auf Fehlentwicklungen aufmerksam.
Aktuell scheint es so, dass etwas Tierkot aus einem Waldstück ausreichte, um die gesamte Weltwirtschaft massiv zu beeinträchtigen. Wir erkennen, in welchem Ausmaß wir die Globalisierung leben, wie weit wir die Gewinnmaximierung treiben und wie wertvoll es ist zu kooperieren. Wir erkennen auch, wie vulnerabel wir trotz des Fortschritts bleiben und wo wir besser werden können. Das alles schafft gute Voraussetzungen für eine aktive und bewusste Zukunftsgestaltung.
 

Wo können wir denn besser werden? 
Wir könnten diese Phase des Innehaltens nutzen, um unsere Lebensweise zu überdenken, ebenso unseren Umgang miteinander und lernen, uns auch wieder über das Kleine, Unmittelbare, Wahrhaftige zu freuen. Wir können diesen weltweiten Einschnitt zum Anlass nehmen, unsere Wirtschaftsweise zu überdenken, deren Schwächen nicht erst jetzt zur Diskussion stehen. Auch das Thema der Spaltung muss jetzt sehr klar adressiert werden, da sich diese Effekte durch die gegenwärtigen und bevorstehenden Entwicklungen sowohl abschwächen als auch massiv verstärken können. Und wir könnten, sobald wir wieder dazu in der Lage sein werden, der aktiven Zukunftsgestaltung und der Digitalisierung größere Aufmerksamkeit schenken. Letztere wird ja plötzlich ungeplant erlebbar, in dem wir z. B. zu Hause lernen oder arbeiten.
 

Wie soll die Spaltung Ihrer Meinung nach adressiert werden? 
Wir werden jetzt erkennen, was für unser Zusammenleben und ein gutes Leben wirklich wichtig ist, und es wird sichtbar werden, welches Verhalten kontraproduktiv ist. Es wird sich zeigen, wer Positives bewirkt und Verantwortung übernimmt, wer selbst in diesen Zeiten nur an persönliche Vorteile denkt und wer mangels inhaltlicher Relevanz nicht mehr gehört wird. In diesen Zeiten fallen Masken. Danach kann vielleicht neu entschieden werden. Der Politik kommt jetzt ein Höchstmaß an Verantwortung zu, über gute Führung Vertrauen in unsere Institutionen zurückzugewinnen. Das ist eine große Chance für die Volksparteien, die ja aktuell am Zuge sind.
 

Und was heißt das gesellschaftlich? 
Eine solche Krise kann zu einer Rückbesinnung auf Werte und Tugenden führen, die in Vergessenheit geraten, die uns aber in der Vergangenheit erfolgreich gemacht haben. Vieles ist eben nicht beliebig oder mit einer Zielerreichung von 80 % in Ordnung. Denken Sie dabei z. B. an unsere kritischen Infrastrukturen, deren Betreiber aktuell ihre Krisenpläne umsetzen.
In dieser Situation liegt eine Chance für Generationen, die in weiten Teilen bislang keine großen Herausforderungen erfahren haben und nicht vermittelt bekamen, warum manche Haltungen, Prozesse und Institutionen wichtig sind. Und sie ist eine Chance für die Generationen, die nur auf Wirtschaftswachstum, Kostenoptimierungen und individuelle Vorteile gesetzt haben, sich den Resultaten ihres Verhaltens zu stellen und bevorstehenden Veränderungen ernsthaft zu begegnen.
 

Wie geht es weiter? 
Wir können nur hoffen, dass die wirtschaftlichen Einschnitte nicht so extrem sind, dass wir dauerhaft sehr operativ agieren werden. Hoffen wir, dass die Verwerfungen nicht unsere Grundwerte und den gesellschaftlichen Veränderungswillen überlagern, sondern beflügeln. In der Krise steckt eine große Chance, da sie alle Menschen weltweit betrifft. Nach der Finanzkrise ist dies der zweite, noch deutlichere Warnschuss in Bezug auf unsere Lebens- und Wirtschaftsweise. Die Schwachstellen in unseren Systemen, z. B. Schwächen im Gesundheitssystem oder überschießende Reaktionen durch den automatisieren Handel an den Börsen, und unsere u. a. selbstgemachte Verwundbarkeit werden uns deutlich aufgezeigt, ausgelöst von einem Virus. Neben all dem Leid können wir heute festhalten: Es ist kein Krieg, kein Atomschlag, keine zerstörerische Naturkatastrophe und das Virus ist keine Schadsoftware, die die Systeme der Welt in vergleichbarer Weise befällt. Sofern wir die Pandemie eindämmen können und ihre Folgen friedlich bewältigen, sollten wir die Möglichkeit haben, gemeinschaftlich Antworten zu finden auf die Frage, in welcher Weise es weitergehen soll.
 

Welche Vorschläge unterbreiten Sie hierzu? 
Wir befassen uns seit bald 10 Jahren intensiv mit Fragen aus diesem Themenfeld. Mit einem besonderen Blick auf Deutschland haben wir hierzu gerade eine Studie als Buch veröffentlicht. Unter dem Überbegriff Smart City beschäftigen wir uns damit – ausgehend von der einzelnen Kommune –, wie es in den verschiedenen Lebensbereichen in Deutschland weitergehen kann, wo Herausforderungen liegen und mit welchen Fragen und Aufgaben wir uns aktuell dringend befassen müssen. Dabei spielt die Digitalisierung eine wichtige Rolle. So haben wir Chancen und Risiken der Digitalisierung aufgezeigt und diskutiert, um damit einen gesellschaftlichen Diskurs und Prozesse der Weiterentwicklung anzuregen. Die Publikation „Smart City – Made in Germany; Die Smart-City-Bewegung als Treiber einer gesellschaftlichen Transformation“ richtet sich an alle Menschen, die sich für unsere Zukunft interessieren.
 

Wäre die Corona-Krise in einer Smart City besser zu bewältigen? 
Smart Cities sind resiliente, nachhaltige und effiziente Städte. Das birgt schon viele Vorteile. Exogene Schocks lassen sich zwar nicht vermeiden, aber besser verkraften und durch kooperative Frühwarnsysteme und koordinierte Maßnahmen evtl. besser vorhersehen und eindämmen.
Wir könnten jetzt die Kapitel unserer Studie durcharbeiten und sicher in jedem Themenfeld etwas finden, das aktuell bereits hilft oder helfen könnte.
 

Geben Sie uns Beispiele? 
Im Bereich der Versorgung wäre die Allokation und Distribution der Waren deutlich einfacher zu bewerkstelligen. Es gäbe im Bereich des dezentralen Lernens und Arbeitens standardisierte Verfahren. Im Gesundheitswesen könnte die aktuelle Situation entlastet werden: durch Online-Sprechstunden, Online-Krankschreibungen und -Rezepte, perspektivisch vielleicht durch dezentrale Testmethoden, aktuell durch noch mehr geteiltes Wissen und bessere Datengrundlagen innerhalb des Gesundheitssystems und im Bereich der Forschung.
Auch viele Betreuungs- und Pflegeservices wären in einer Smart City schon weiter entwickelt und die Vernetzung würde bereits ältere Menschen gezielt mit einbeziehen. So gäbe es für Pflegebedürftige mehr Sicherheit und eine umfassendere Begleitung im Alltag. Im Bereich der öffentlichen Sicherheit und im Krisenmanagement gäbe es sicherlich weitergehende Möglichkeiten, die aber rechtlich begrenzt werden müssten. Das alles beschreiben wir im Buch. Am Ende steht aber immer der Mensch, den wir für die Umsetzung brauchen und oft das Ehrenamt. Die Digitalisierung kann dabei lediglich unterstützen.
 

Jeder definiert seine „Smart City“ anders – haben Sie ein Idealbild davon? Wenn ja, wie sieht es aus? 
Unser Entwurf einer Smart City heißt „Blisscity“ und steht für eine „Stätte der Glücklichen“. Das Glück lässt sich natürlich nicht planen, aber man kann Kommunen so gestalten, dass sie dem Glück der Bewohner zuträglich sind. Eine Blisscity strebt zum einen danach, die Funktionsfähigkeit unserer Kommune aufrechtzuerhalten, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu bewahren und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Zum anderen strebt sie nach der Wahrung unserer pluralistischen Vorstellung vom guten Leben und unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie fußt auf einem von gemeinschaftlichen Zielen getragenen, freiwilligen Miteinander, ohne die Selbstbestimmung der Menschen zu gefährden.
 

Wäre jetzt nicht die Gelegenheit, „Soziale Netzwerke“ wirklich sozial im Sinne der Hilfe für andere zu gestalten? 
Vielerorts passiert das ja bereits. Wie gesagt, haben leider noch nicht alle Bevölkerungsteile Zugang zu den Angeboten. Erfreulicherweise erleben wir gerade verstärkt das Entstehen von wahrhaftigen Strukturen vor Ort. Im Buch stellen wir einige solcher sozialen Netzwerke vor.
 

Vieles funktioniert in Zukunft mit Big Data und KI – ist Deutschland dafür bereit? 
Wir sind in der Lage, technische und KI-gestützte Lösungen zu entwickeln. Wichtig wäre es, sie auch in Anwendung zu bringen, da wo sie sinnvoll sind. Angesichts unserer geringen Marktgröße und fehlender Kooperation innerhalb Europas sowie aufgrund anderer wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen, bestimmen die USA und China diese Entwicklungen. Daher müssen wir unsere Anforderungen an die Ausgestaltung der Systeme formulieren. Wir sollten selbst Systeme schaffen, die unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerecht werden oder entsprechende Geschäftsbedingungen für zu erwerbende Produkte formulieren. Dies erfordert einen gesellschaftlichen Diskurs.
 

Es ist, wie man an Ihrem Buch sehen kann, ein sehr vielschichtiges Projekt – was können wir davon verwirklichen? 
Alles, was im Buch vorgestellt wird, kann verwirklicht werden. Vieles davon unmittelbar.
Neben den im Buch aufgezeigten Handlungsoptionen geht es aber auch darum, eine Haltung zu entwickeln. Eine Vorstellung davon, wie wir in Zukunft miteinander leben wollen und welche Maßnahmen wir dafür jetzt einleiten müssen.
 

Was sollten wir unbedingt verwirklichen? 
Alles, was wir für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit unserer Kommunen benötigen, alles, was zum Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen erforderlich ist und alles, was die positive gesellschaftliche Entwicklung stärkt und uns vor fehlgeleiteten technischen Abhängigkeiten bewahrt.
 

Schon jetzt wollen Millionen Menschen in gigantischen Städten leben und wohnen – ein Trend, der sich noch umkehren lässt? 
Ich glaube nicht, dass hier ausschließlich vom „Wollen“ die Rede sein kann. Stadtbewohner finden in den urbanen Zentren Zugänge zu Arbeit und zu Versorgungsleistungen, die es auf dem Land nicht in gleicher Weise gibt. In Deutschland würden ca. 44 % der Menschen bei freier Wahl lieber auf dem Land leben. Diesen Trend kann man – auch mithilfe der Digitalisierung – gezielt adressieren und gestalten.
 

Wenn Sie fünf Wünsche für Ihre Stadt Stuttgart frei hätten, um smarter zu werden – welche wären das? 
Ich wünsche mir, dass Stuttgart mit den vielen Kompetenzen in der Region, sinnvolle Lösungen gemeinsam mit den Bewohnern in Anwendung bringt. Insbesondere im Personen- und Gütertransport könnte Stuttgart eine Vorreiterrolle einnehmen, um den Standort in die Zukunft zu führen. Dies ließe sich hier dezidiert darstellen.
Zunächst wünsche ich mir aber, dass weltweit viele Menschen gesund bleiben, dass die Erkrankten wieder gesund werden und dass wir die Situation in allen Teilen der Welt in den Griff bekommen. Auch hoffe ich, dass wir es friedvoll und gemeinschaftlich schaffen, die erwartbaren Folgen des enormen ökonomischen Schadens zu bewältigen. Schließlich hoffe ich, dass wir als Gesellschaft gestärkt und mit starkem Zusammenhalt aus dieser Krise gehen.
 

Eckdaten zur Studie:
Smart City – Made in Germany
Das deutsche Standardwerk zum Thema Smart City, welches in 90 Kapiteln themenbezogene Haltungen, Aktivitäten und Lösungsansätze der Deutschen Wirtschaft und Gesellschaft vorstellt. 142 Mitwirkende haben in 90 Kapiteln zum Erfolg dieser umfassenden Untersuchung beigetragen. Der Autorenkreis rekrutiert sich aus Vorsitzenden, Geschäftsführern und Experten deutscher marktführender Konzerne und Unternehmen, Vorsitzenden von Stiftungen, Verbänden und Vereinen sowie aus hochrangigen Vertretern der verschiedenen Verwaltungsebenen (Bund, Land und Kommunen) und weiteren stadtbezogenen Organisationen. Die Vorworte wurden von den Geschäftsführern der kommunalen Spitzenverbände und des VKU verfasst. Die Studie erschien im Januar 2020 als Hardcover- und E-Book im Springer Nature Verlag.
 

Über die Herausgeberin:
Prof. h.c. Dr. Chirine Etezadzadeh gründete und leitet das SmartCity.institute in Stuttgart. Seit bald zehn Jahren gestaltet sie mit zahlreichen Projekten, Publikationen und Veranstaltungen sowie beratend die Smart-City-Entwicklung mit. Die Publikation „Smart City – Made in Germany“ initiierte im Jahr 2019 die Gründung des Deutschen Smart City Expertenrats, der die positiven Kräfte deutscher Experten bündeln und für die Städte der Welt nutzbar machen soll.
 

Das Interview erschien am 27.04.2020 in Auszügen in: https://analysedeutschland.de/article/etezadzadeh-04-20.html.

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